Ausgliederung der alten Menschen aus den Familien - Ein Gastbeitrag zur Urheimischen Medizin

von Prof. Dr. Gundolf Keil

Nachfolgend finden Sie einen Beitrag von Prof. Gundolf Keil (siehe Biogramm) zur urheimischen Medizin.
Eine ausführlichere Darstellung können Sie sich hier ansehen oder herunterladen.

Ausgliederung der alten Menschen aus den Familien

Die europäischen Populationen sehen sich derzeit durch grenzüberschreitende virale Infektionen herausgefordert. Sie versuchen, diesen Herausforderungen durch medizinische und Quarantäne-Maßnahmen zu begegnen. Ihre Maßnahmen sind diffus, hektisch und oft nur bedingt zielführend. Nach 13 Monaten aktionistischer Unzulänglichkeit zeigt der gesellschaftliche Zusammenhalt unübersehbar Risse. Die sozialen Dehiszenzen werfen die Frage auf, inwieweit die Familien – über 3000 Jahre Struktur-Element der europäischen Gesellschaft – in dieser Situation epidemischer Herausforderung etwas zur Stabilisierung gesellschaftlicher Solidarität beitragen könnten. Der vorliegende Essai, der sich dem Umgang mit den Senioren widmet, kann zeigen, daß die Familien nach einem halben Jahrhundert struktureller Erosion dem Auftrag, die Gesellschaft zu stabilisieren, bestenfalls marginal noch entsprechen können.

Das gesellschaftliche Modell „Familie“ existiert seit 3.000 Jahren. Es hat sich aus indogermanischen Vorformen entwickelt. Es handelt sich soziologisch um eine eheliche Gesellschaft, rechtlich um eine (agrarische Gebiets-)Körperschaft, ökonomisch um eine Wirtschafts- und Produktionsgemeinschaft. Als seßhafte Tisch- und Hausgemeinschaft umschließt die Familie drei Personengruppen, von denen die Kernfamilie am bedeutendsten ist. Sie umfaßt die Kinder, die Eltern (Vater und Mutter) und die Großeltern (das sind die Eltern des Vaters). Die Sozialstruktur der Gemeinschaft ist hierarchisch. Den Zusammenhalt der Familie erwirkt der Vater, der die Vormundschaft in allen Bereichen für sämtliche Familienmitglieder wahrnimmt, sie nach außen juristisch vertritt und für jeden einzelnen die volle Verantwortung trägt. Darüber hinaus ist er – auch unter Einsatz seines Lebens – zum Schutz seiner Familie verpflichtet. Nach innen verfügt er in der Familie über uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis und ist als einziger in der Familie berechtigt, Züchtigungen vorzunehmen.

Beim Eintritt ins siebte Lebensjahrzehnt übergibt der Familienvater die Vormundschaft an seinen Nachfolger – in der Regel seinen erstgeborenen Sohn – und wird zusammen mit seiner Frau vom neuen Familienvater aufs Altenteil gesetzt. Die Einrichtung des Altenteils, mit dem sich bereits Solon (um 640 – 560) befaßte, war im Mittelalter gesetzlich geregelt und sicherte den Altenteilern die Pflege, die Versorgung, die Nutzung der Einrichtung und das Wohnrecht in Haus und Hof (Austragsstüberl, Austragshäusel). An den Tätigkeiten der wirtschaftlichen Produktion brauchten die Alten nicht mehr teilzunehmen, dagegen leisteten sie als Großeltern wesentliches bei der (Klein-)Kinderbetreuung.

Im Mittelalter lebten 95 % der europäischen Bevölkerung in Familien. Im Mittelalter begann allerdings auch die Sozialstruktur der Familie zu erodieren. Eingriffe der Kirche betrafen die Eheschließung, das Scheidungsrecht und die Kindererziehung. Die allgemeine Schulpflicht wurde regional eingeführt und konnte sich ab dem 16. Jahrhundert schrittweise durchsetzen; rechtliche Einschränkungen der Kinderarbeit schlossen sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts an. Das konfessionelle Zeitalter ließ im übrigen die Ehe unangetastet (16./17. Jh.), und die Aufklärung des 18. Jahrhunderts bemühte sich um ihren Schutz. Das gleiche tat Napoleon mit seinem Gesetzwerk 1804-1815, dessen Code civil in Deutschland regional bis 1919 gültig blieb. Die Weimarer Verfassung formulierte die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ 1919 lediglich als Programmsatz und ließ die „Herrschaftsposition des Ehemanns und Vaters in der Familie“ unangetastet. Von den drei nach 1945 in (Rest-)Deutschland erlassenen Verfassungen griff die erste 1946 auf den Weimarer Verfassungstext zurück; die beiden jüngeren von 1949 hoben dagegen „alle gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßenden Normen“ auf und setzten dies „mit sofortiger Wirkung“ oder (bis 1957) richterrechtlich durch. Die hormonale Kontrazeption ermöglichte gleichzeitig die „Sexuelle Befreiung der Frau“ und manifestierte sich nach 1960 in (zunächst studentischen) Kommunen und (promiskuitiven) Wohngemeinschaften. Die Familie verlor dadurch ihr essentielles Wesensmerkmal –: sie büßte ihre patriarchalisch differenzierte Struktur ein und verlor die Schutz- und Herrschaftsgewalt ihres eheherrlichen Vormunds. Das sie stützende Höferecht wurde außer Kraft gesetzt, und den Zerfall der Familien beschleunigte die Jüngere Frauenbewegung, die ab den 1960er Jahren interkontinentalen Einfluß erlangte: Die Weltfrauenkonferenz von Nairobi (1985) thematisierte erfolgreich das „gender mainstreaming“, und auf der Weltfrauenkonferenz von Peking (1995) unterzeichneten 189 Vereinte-Nationen-Staaten die Forderung nach Gleichberechtigung „der Geschlechter in allen Bereichen der Gesellschaft“. Die sich in den (westlichen) Staaten anschließenden „Gleichstellungs“-Gesetze und -Verordnungen zielten unter anderem gegen die „Klassische“ Familie, sie führten durch hormonal flankierte Transgender-Operationen zum jeweils angestrebten Wunschgeschlecht, mündeten in (flexiblen) meist kurzfristigen Sexualpartnerschaften, manifestierten sich in (vier Generationen umfassenden) „Männerlosen 'families'“, und sie dominieren inzwischen die Populationen durch das Ideal der „Alleinerziehenden Mutter“, die indessen nicht stillt, die auch nicht gebiert, sondern der Schnittentbindung den Vorzug gibt, und die auch nicht erzieht, da sie die Erziehung öffentlichen Einrichtungen (wie Kinderhorten, KiTa's, Kindergärten, Konvikten, Ganztagsunterrichtenden) überläßt, so daß sie weder als Mutter geschweige denn als Erzieherin zu bezeichnen ist, was zur Folge hat, daß vom Terminus „Alleinerziehende Mutter“ lediglich das Kompositionsglied „Allein“ gültig bleibt. Hinsichtlich Genealogie sollte man von den Allein(erziehend)en keine sichere Antwort erwarten. Bezüglich der Väter (beziehungsweise des Vaters) der Kinder gilt der von Homer ([1000 – 800] Ende 8./Anfang 7. Jh.) eingeführte Rechtsgrundsatz: „de patre semper est dubitandum“.

Als männliches Pendant zur „Alleinerziehenden“ hat sich – beworben von der Transgender-Bewegung – der „digitale Nomade“ herausgebildet, der, weltweit vernetzt, überall und nirgendwo zuhause ist, als Repräsentant postmoderner Rastlosigkeit seine Standorte wechselt und als Sinnbild des „Transitorischen“ das Ziel globalisierender Bestrebungen erreicht. Als Verantwortung tragenden Familienvater und als entscheidungsbefugten Familienvormund kann man sich den globalisierten Nomaden schwer vorstellen.

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts ist die „Klassische“ Familie mit ihren drei Generationen so weit korrodiert, daß die dritte Generation – die Alten – herauszufallen beginnen. Die ersten Altenheime werden gegründet. Von Würzburg ausgehend formiert sich die Altenpflege als staatlich anerkannter medizinischer Pflegeberuf. Die meisten Altenpfleger sind weiblich.